Kinder als Forscher ernst nehmen
Die Reggio-Pädagogik benennt sich programmatisch nach der norditalienischen Stadt Reggio Emilia. Diese gibt als Träger von rund vierzig Krippen und Kindertagesstätten den juristischen, finanziellen und konzeptionellen Rahmen für die Praxis der Reggio-Pädagogik ab. Die Phase der Entwicklung des besonderen pädagogischen Profils der reggianischen Kindereinrichtungen lag in den Jahren zwischen 1962 und 1973. Der Pädagoge Loris Malaguzzi spielte dabei eine führende Rolle. Seit den 1980er Jahre kommen internationale Besuchergruppen nach Reggio, um in den städtischen Kindereinrichtungen zu hospitieren.
Die Geschichte der Reggio-Pädagogik
1981 wurde die Wanderausstellung „Die 100 Sprachen der Kinder“ konzipiert. Sie ist seither in vielen Länder gezeigt worden, zuletzt, unter dem Titel „The Wonder of Learning“, im Juni 2012 in Chemnitz. 1991 wurden die reggianischen Kindereinrichtungen von der amerikanischen Zeitschrift Newsweek als beste vorschulische Institutionen der Welt ausgezeichnet.
Das Kind als Forscher
In der Reggio-Pädagogik wird das Kind als Konstrukteur seiner Entwicklung und seines Wissens und Könnens betrachtet. Als Entdecker und Forscher will das Kind die Welt verstehen und sie in ein System von Sinn und persönliche Bedeutungen integrieren. Zugleich erweitert das Kind durch Experimente, durch Versuch und Irrtum seine alltagspraktische und soziale Handlungsfähigkeit.
Konstruktivismus in der Reggio-Pädagogik
Von zentraler Bedeutung für Bildungsprozesse ist in der Reggio-Pädagogik der Aufbau emotionaler Identifikation mit dem Gegenstand des Interesses: Das Kind lernt nur, wenn es von einer Sache begeistert, beseelt, in sie „verliebt“ ist. Zugleich wird der Kommunikation und Interaktion mit anderen (Kindern wie Erwachsenen) in Reggio ein hoher Stellenwert eingeräumt: Kinder setzen sich mit den Vorstellungen anderer auseinander und konstruieren in diesem Auseinandersetzungsprozess ihre eigenen Überzeugungen.
Das von Bateson, Pierce, Watzlawick, von Glasersfeld u.a. entwickelte Paradigma einer (ko-)konstruktivistischen Weltdeutung spiegelt sich in der Vorstellung wider, dass Lernen nie fertiges, sondern nur vorläufiges Wissen konstruiert, das immer wieder neuer Deutungen bedarf. In den Forschungsprozessen der Kinder geht es daher nicht um den Erwerb „richtigen“ Wissens, sondern um die Erprobung von Strategien für die Annäherung an Wahrheit.
Projekte in der Reggio-Pädagogik
In der Reggio-Pädagogik spielen Projekte zur Gewinnung von alltagsbezogenen Fertigkeiten und vor allem von Selbst- und Weltverständnis eine besondere Rolle. Die Prozess-Struktur reggianischer Projekte lebt insgesamt von der variierenden Wiederholung der Momente Wahrnehmung – Reflexion – Aktion – Kommunikation. Projekte entwickeln sich vielfach aus Spielhandlungen, Gesprächen, Entdeckungen oder Beobachtungen der Kinder. In der Morgenversammlung kann über mögliche Projektthemen diskutiert und entschieden werden.
Auch Erzieherinnen können verbal oder über mitgebrachte Gegenstände Impulse für Projekte geben. Projekte basieren auf dem Interesse und oft auch auf konkreten Erlebnissen der Kinder. Die Zahl der Projektteilnehmer hängt daher allein von der Interessenbindung der Beteiligten ab.
Dokumentation in der Reggio-Pädagogik
Ein wichtiges Element der reggianischen Projektpraxis ist die sinnlich-gegenständliche Darstellung der Handlungsprozesse durch großflächige Wand-Dokumentationen („sprechende Wände“) oder Heftdokumentationen. Zu ihren Bestandteilen gehören Kinderarbeiten, Kinderäußerungen, Fotos oder auch Videos, die den Aktionsprozess der Kinder darstellen, Überschriften und kurze Kommentare.
Die Erzieherinnen sind für Materialauswahl und Gestaltung der Dokumentationen verantwortlich. Vielfach werden die Kinder aber an der Dokumentationserstellung beteiligt. Gestärkt werden dadurch ihre Eigenverantwortlichkeit und Identifikation mit ihren Handlungsprozessen und deren Dokumentation. Sie vermittelt den Kindern Wertschätzung, Rückmeldung, Anlässe zum sich Erinnern. Auch für Erzieherinnen und Eltern stellen die Projektdokumentationen wichtige Informationsquellen über das Denken, Fühlen, Können der Kinder und deren Entwicklung dar.
Die Rolle der Erzieherinnen
Kinder, Eltern und Erzieherinnen bilden ein Wirkungsgefüge, in dem alle versuchen, für eine optimistische Grundstimmung und eine positive emotionale Beziehung untereinander zu sorgen. Eltern werden als Experten ihrer Kinder verstanden, die daher für die Erzieherinnen wichtige regelmäßige Gesprächspartner sind.
Der Erzieherin in Reggio Emilia werden drei wesentliche Rollen zugewiesen: Sie ist
- Begleiterin
- Forscherin
- Zeugin
Der Terminus der Begleiterin wird in der Reggio-Pädagogik gewählt, um sich von der traditionell anleitenden Erzieherinnenrolle abzugrenzen. Das Kind wird als der eigentliche Akteur und Konstrukteur seiner Entwicklung gesehen. Es braucht aber je nach Situation Zuwendung oder Autonomieerfahrung durch achtsames, zugleich forschendes Begleiten.
Dieses umschließt das Aufnehmen, Verarbeiten, Interpretieren der vielfältigen Äußerungen und Ausdrucksformen der Kinder und das darauf aufbauende Bereitstellen unterschiedlicher Ressourcen für die Entwicklung der Kinder (in Gestalt von Zeit, speziellen Räumlichkeiten, Zuwendung, Interesse, herausfordernden Fragen, Ideen oder Gegenständen).
Der Raum als dritter Erzieher
Der Raum erfüllt als „dritter Erzieher“ für Kinder zwei Hauptaufgaben: Er vermittelt ihnen Geborgenheit und zugleich Herausforderungen. Er umfasst auch das von den Kindern erschließbare Umfeld: die Straßen, Plätze, öffentlichen Gebäude ebenso wie die Reste von Natur in der Stadt und an deren Rand.
Die Öffnung des Kita-Alltags zum Leben in der Stadt wird durch die Architektur der meisten reggianischen Kindereinrichtungen und durch die Gestaltung des Eingangsbereichs zum Ausdruck gebracht: Dieser ist die Visitenkarte der Einrichtung. Hier stellen sich das Personal, die pädagogischen Überzeugungen und Praxisprinzipien der Einrichtung vor.
Innerhalb der Einrichtung entwickelt sich ein dialogisches Verhältnis zwischen den Kindern und dem räumlichen Ambiente. Räume übernehmen verschiedene pädagogische „Rollen“. Sie sollen
- eine aktivierende Atmosphäre des Wohlbefindens schaffen
- die Kommunikation in der Einrichtung stimulieren
- gegenständliche Ressourcen für Spiel- und Projektaktivitäten bereitstellen
- Impulse geben für die Wahl der Kinderaktivitäten.
Daher sind Räume, auch die Gruppenräume, überwiegend mit Schwerpunktfunktionen ausgestaltet, also als Kinderrestaurant, Atelier, Bauraum, Rollenspiel- oder Forscherraum gestaltet.
Reggio-Pädagogik in Deutschland
In Deutschland wird die Reggio-Pädagogik seit 1995 durch Dialog Reggio e.V. gefördert. Der in Regionalgruppen gegliederte Verein unterstützt
- Kurse für die Qualifizierung von Fachkräften für reggio-inspirierte Lernkultur
- die Bildung eines deutschen Netzwerkes reggio-inspirierter Kindertageseinrichtungen
- Studienreisen nach Reggio und zu reggio-inspirierten Kindertageseinrichtungen in Deutschland sowie Fachtagungen.
100 Sprachen
Endecken Sie das Gedicht über die 100 Sprachen der Kinder von Loris Malaguzzi.
Netzwerk
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